Verstöße gegen § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG sollen nach Auffassung des 6. Senat des BAG nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Der 6. Senat des BAG (BAG, Vorlagenbeschluss vom 14. Dezember 2023, Az.: 6 AZR 157/22 (B)) weicht damit von der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats des BAG ab und beabsichtigt einen Richtungswechsel in der Rechtsprechung.
Beabsichtigt ein Arbeitgeber einen Personalabbau, der innerhalb von 30 Tagen zu einer Überschreitung der Schwellenwerte gemäß § 17 I KSchG führt, ist dieser verpflichtet, der Agentur für Arbeit vor Ausspruch der beabsichtigten Kündigungen Anzeige zu erstatten. Entspricht die Anzeige nicht den Anforderungen des § 17 KSchG, führt dies nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG gemäß § 134 BGB zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen anzeigepflichtigen Kündigungen. Dies hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 22. November 2012 (2 AZR 371/11) begründet: § 17 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 KSchG sei ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB und das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige führe nach dem Grundsatz des „effet utile“ zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Bereits am 13. Juli 2023 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren – C-134/22 –, dass die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG (= § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG) nicht den Individualschutz der von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern bezwecke.
Vor diesem Hintergrund beabsichtigt nunmehr der 6. Senat des BAG, von der Rechtsprechung des 2. Senats abzuweichen: Der 6. Senat geht nunmehr davon aus, dass Verstöße gegen die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Pflicht zur ordnungsgemäßen Erstattung der Anzeige von Massenentlassungen bei der zuständigen Agentur für Arbeit nicht nach § 134 BGB zur Nichtigkeit der Kündigungen führen. § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG erfülle die Anforderungen an ein Verbotsgesetz nicht, sondern regele nur die Verpflichtungen des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren. Selbst wenn § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG ein Verbotsgesetz wäre, so der 6. Senat, bezwecke § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nicht die Nichtigkeit der Kündigungen, bei denen der Arbeitgeber seine Pflichten im Anzeigeverfahren verletzte. Auch ergäbe sich die Nichtigkeit der Kündigung auch nicht aus § 18 Abs. 1 KSchG. Zwar werden danach Entlassungen vor Ablauf der Sperrfrist nur mit Zustimmung der Arbeitsverwaltung „wirksam“, darin läge jedoch kein behördliches Genehmigungserfordernis.
Nunmehr muss der 2. Senat des BAG mitteilen, ob er an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält. Gibt der 2. Senat seine bisherige Rechtsprechung auf, ist eine Rechtsprechungsänderung des BAG zu erwarten. Andernfalls wäre der 6. Senat wegen fortbestehender Divergenz nach § 45 II ArbGG verpflichtet, den Großen Senat anzurufen.
Praxishinweis: Massenentlassungsanzeigen sind sehr fehlerträchtig. Auch wenn Einzelheiten zum gegebenenfalls vom BAG neu zu beurteilenden Sanktionssystem bei Massenentlassungsverfahren noch unklar sind, so bringt eine Änderung der Rechtsprechung, wie sie der 6. Senat anstrebt, jedenfalls Arbeitgebern Erleichterungen.
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Mediatorin (Univ.)
Coach (Univ.)